Wenn die Jugendämter zu mächtig werden
Von Cornelia Bolesch
Brüssel Die Briefe stammen von Eltern, die über Nacht-und-Nebel-Aktionen" und über Nazi-Methoden" klagen. Man habe ihnen ihre Kinder entrissen und in Pflegefamilien gesteckt, wo sie zum Teil misshandelt würden. Gutachter hätten den Eltern hochmütig die geistige Gesundheit und das Sorgerecht abgesprochen. Französische und polnische Väter beschweren sich, sie dürften mit ihren Kindern in Deutschland nur Deutsch sprechen seit zwei Jahren schon treffen solche Briefe im Europaparlament ein. Und fast immer stehen darin deutsche Jugendämter am Pranger.
400 solcher Briefe hat David Lowe, der britische Generalsekretär des Petitionsausschusses, bislang gezählt. Sie zeichnen ein Bild, wie man es in Deutschland kaum kennt. Hier geraten die Jugendämter immer wieder in die Kritik, weil sie überfordert wirken und manchmal nicht verhindern, dass Eltern ihre Kinder bis zum Tode misshandeln. In den Briefen nach Brüssel aber klagen Väter und Mütter über das Gegenteil: über ein allmächtiges Amt, das sich brutal zwischen sie und ihre Kinder dränge. Der Ausschuss hat ein Problem: Die Unterschiedlichkeit der Fälle, ihr emotionaler Gehalt bereiten uns Schwierigkeiten, eine eindeutige Empfehlung vorzubereiten", schrieb der polnische Ausschussvorsitzende, Marcin Libicki, vor wenigen Wochen an Bundesfamilienministerin Ursula von der Leyen (CDU).
Die Klagen über die Allmacht der Jugendämter einerseits und die Kritik an ihrer Ohnmacht andererseits sind zwei Seiten einer Medaille. Es geht um Professionalität. Und vor allem darum, ob Behörden in Deutschland ausreichend beaufsichtigt werden, deren Fehler Existenzen zerstören können das Leben eines Kindes, aber auch die Zukunft einer Familie. Die Allmacht des Jugendamts das ist keine Fata Morgana", bestätigt die SPD-Europaabgeordnete Evelyne Gebhardt. Keine andere Jugendbehörde in Europa hat solche Vollmachten". Die Deutsch-Französin Gebhardt berät das Bundesjustizministerium in Scheidungsfällen, bei denen Deutsche und Franzosen betroffen sind. Immer wieder fällt ihr auf, wie wenig Fingerspitzengefühl die Mitarbeiter von Jugendämtern, aber auch deutsche Familienrichter zeigen, wenn es um die Interessen von Ausländern geht. Auch die Justizministerin weiß um diese Probleme. In einem Brief an ihre Länderkollegen bat Brigitte Zypries (SPD) vor einigen Monaten dringend um mehr Sensibilität". So bestehen manche Jugendämter etwa darauf, dass ausländische Väter mit ihren Kindern aus geschiedenen Ehen Deutsch sprechen müssen, wenn das Gericht einen Umgang nur unter Aufsicht erlaubt hat. Wojciech Pomorski aus Polen hat sich das nicht gefallen lassen. Seine Petition an das Europaparlament bewirkte eine kleine Wende. Im Fall Pomorski war es das Hamburger Jugendamt, das die Sprachregelung vorschrieb. Die Aufsichtsperson vom Jugendamt müsse wissen, was der Vater mit den Kindern bespreche. Schließlich könne es sein, dass er eine Entführung plane.
Als der Petitionsausschuss nachfragt, stellt die Bundesregierung die Rechtslage klar. Das Dokument liest sich wie eine einzige Nachhilfe für das Jugendamt. Mehrsprachige Eltern seien für Kinder eine Bereicherung" so die erste, grundsätzliche Feststellung. Habe ein Gericht begleiteten Umgang" angeordnet und sollte es nötig sein, das Gespräch zu verstehen, so müsse ein Dolmetscher besorgt werden, selbst wenn dies erhebliche Mehrkosten" verursache. Bei einer Anhörung vor dem Ausschuss in Brüssel bedauerte eine Vertreterin der Bundesregierung den ungerechtfertigten Eingriff" des Jugendamtes und bekannte: Dem polnischen Vater sei Unrecht widerfahren. Der Europaparlamentarier Rainer Wieland (CDU) spricht dennoch nur von Fehlern, wie sie in jedem System vorkämen, menschliche Schwächen". Auch die Bundesregierung hält es für unnötig, die Arbeit der Jugendämter systematisch auf den Prüfstand zu stellen.
Als der Europaabgeordnete Andreas Schwab (CDU) von der Bundesregierung wissen will, ob die vielen Beschwerden nicht doch ein strukturelles Problem der Kinder-und Jugendhilfe in Deutschland offenbarten, antwortet der parlamentarische Staatssekretär im Familienministerium, Hermann Kues, es handle sich nur um Einzelfälle". Kues räumt ein, Kompetenz und Professionalität ließen manchmal bei hochstrittigen Trennungssituationen" zu wünschen übrig. Die Mitarbeiter der Jugendämter müssten besser ausgebildet werden, dafür gebe es aber auch schon gezielte Projekte.
Wozu der Staatssekretär in seiner Antwort vom April jedoch nicht Stellung nimmt, sind die Klagen von deutschen Eltern, denen das Jugendamt die Kinder weggenommen hat. Weil diese Vorgänge noch vor den Familiengerichten verhandelt werden, will sich das Ministerium nicht einmischen. Für Annelise Oeschger aber sind es gerade diese Fälle, die sie zu der Überzeugung gebracht haben: Da stimmt etwas nicht im deutschen System." Die Schweizerin arbeitet beim Europarat. Sie ist dort Präsidentin des Kongresses der Nichtregierungsorganisationen. Die Juristin hat Kontakte zu Eltern, die seit Jahren gegen Jugendämter kämpfen und versuchen, ihre Kinder zurückzubekommen. Seither ist sie überzeugt: Vor Gericht kommen die häufig nicht weiter. Die Leute haben manchmal null Chancen. Sie rennen gegen eine Wand."
Zum Beispiel Petra Heller aus Bamberg. Vor einigen Jahren erkrankt die Tänzerin an Borreliose und steckt damit während ihrer Schwangerschaft auch ihren Sohn Aeneas an. Das Kind kommt kränkelnd zur Welt. Die Mutter will dem Sohn dieselbe Therapie vermitteln, die auch ihr half. Doch die vielen Arztbesuche und Behandlungen machen die Schule misstrauisch. Sie schaltet das Gesundheitsamt ein. Deren Leiter fällt mit einem Gutachten ein vernichtendes Urteil, das der ganzen Familie zum Verhängnis wird: Petra Heller sei psychisch krank. Wenige Tage später holt das Jugendamt Aeneas überfallartig aus der Wohnung und bringt ihn in ein Heim (und inzwischen in eine Pflegefamilie). Petra Heller flüchtet in die Schweiz, um ihrer Entmündigung zu entgehen. Seit vier Jahren kämpft die Familie um Wiedergutmachung. Der Fall ist jetzt vor dem Oberlandesgericht Bamberg angelangt.
Die Gerichte sind die Kontrolleure der Jugendämter. Doch in der Praxis, so Annelise Oeschger, funktioniere diese Aufsicht häufig nicht. In Bamberg jedenfalls nimmt sie nur wahr, dass sich Jugendamt und Gericht gegenseitig die Bälle zuspielen". Die Gerichtsverhandlungen erlebt sie als Farce". Zusammen mit der Familie Heller und einem Kreis von Unterstützern veranstaltete sie in der fränkischen Stadt im vergangenen Herbst das Symposium Deutsche Jugendämter und die Europäische Menschenrechtskonvention" und reiste anschließend mit einer Bamberger Erklärung" zum Petitionsausschuss nach Brüssel. Die Unterzeichner fordern von den Behörden Fakten statt Vorurteile" und mindestens zwei unabhängige Gutachten", wenn es um den Entzug des Sorgerechts geht. Die Hauptforderung aber ist die Schaffung einer unabhängigen Rechts- und Fachaufsicht", damit Beschlüsse des Jugendamtes unverzüglich" überprüft werden könnten. Ferner wünschen sich die Unterzeichner eine nationale Ombudsperson für den Kinder- und Jugendschutz".
Doch Politiker und die Betroffenen reden aneinander vorbei. Bei einer öffentlichen Diskussion in Berlin schlägt Petra Hellers Anwalt Stefan Hambura der Familienministerin etwas forsch vor, die Jugendämter zu zerschlagen". Ursula von der Leyen lacht ungläubig auf. Was der Anwalt da vorschlage, sei absurd. Es gehe der Bundesregierung im Gegenteil um die Stärkung der Jugendämter, um ihre engere Vernetzung" mit Gerichten, Schulen und anderen sozialen Stellen.
Für Petra Heller ist das eine Hiobsbotschaft. Denn sie fühlt sich ja gerade als Opfer einer zu eng vernetzten Obrigkeit, als Opfer des Bamberger Klüngels". Als weitere Niederlage muss sie verbuchen, was der Bundestag im April auf den Weg bringt: die Verschärfung des Jugendhilferechts. Auf Antrag der Jugendämter sollen die Gerichte den Eltern künftig noch schneller das Sorgerecht entziehen können. Für Petra Heller und andere Betroffene bleibt nach Jahren des vergeblichen Kampfs vor deutschen Gerichten dann wohl nur noch der Ausweg nach Europa: zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg.
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