Dienstag, September 09, 2008

197. Deutschland: Späte Diskussion über "Heimkinder"

Wien - raketa.at - Kirche im Blick - Henriette Mayr - 16. April 2006


In Deutschland hat eine Diskussion über Repression und Ausbeutung in kirchlichen Erziehungsheimen begonnen. Es geht um die Zeit von den Nachkriegs- bis zu den beginnenden siebziger Jahren. Peter Wensierski, der zu diesem Thema ein Buch und einen ausführlichen Artikel in der ZEIT schrieb, sieht die größte Verantwortung bei der katholischen Kirche, da etwas mehr als die Hälfte aller Heime in den frühen Jahren der Bundesrepublik "allein in katholischer Hand" war. Wensierski:
"In den sechziger Jahren drillten staatliche, katholische und evangelische Erzieher Kinder und Jugendliche in rund 3000 Heimen mit mehr als 200.000 Plätzen. Gut die Hälfte der Kinder war zwei bis vier Jahre lang in solchen Heimen. Andere verbrachten ihre ganze Kindheit und Jugend in den oft hermetisch abgeschlossenen Häusern.

Rund 80 Prozent der Heime waren in konfessioneller Hand. Insbesondere die katholischen Frauen- und Männerorden führten jahrzehntelang zahlreiche Erziehungsanstalten. Sie hießen »Zum Guten Hirten« oder waren nach Heiligen und Ordensgründern benannt: Don-Bosco-Heim, St. Vincenzheim, St. Hedwig oder Marienheim.

Heute leben aus dieser Zeit noch mindestens eine halbe, wahrscheinlich aber sogar mehr als eine Million Menschen unter uns, die zwischen 1945 und 1975 in den westdeutschen Heimen groß wurden. Sie sind jetzt zwischen 40 und 65 Jahre alt. Doch seltsam: In einer aufgeklärten Gesellschaft, die scheinbar keine Tabus mehr kennt, ist es für viele von ihnen bis heute nicht möglich, darüber zu sprechen. Selbst nahen Angehörigen offenbaren sie sich mitunter nicht – aus Scham. Sie fürchten sich vor dem diskriminierenden Etikett »Heimkind«, als hätten sie im Zuchthaus gesessen."

Reformen in deutschen Erziehungsanstalten kamen erst zu Beginn der siebziger Jahre in Gang. Auslöser war die - an vorderster Stelle mit den Namen Ulrike Meinhof, Andreas Baader und Gudrun Ensslin verbundene - Heimkampagne der APO, darunter die Befreiungen von Heimkindern im Sommer 1969 und die Besetzung des Büros des Frankfurter Jugendamtsleiters. Die ihm abgerungenen vier Wohnkollektive wurden zum Vorbild der heute üblichen "betreuten Jugendwohngemeinschaften".

Zunächst: kirchliche Gesprächsverweigerung
Während in den USA, Kanada und Irland ehemalige Opfer ein "Recht auf Entschuldigung und Wiedergutmachung" erkämpft hätten, steht die deutsche Auseinandersetzung noch am Anfang. Wensierski:
"Sollten auch die deutschen Heimkinder solche Ansprüche anmelden, müssen sie sich wohl auf einen schweren Kampf gegen die Institution Kirche einrichten. Bei der Deutschen Bischofskonferenz, den Ordensgemeinschaften, bei Caritas und Diakonie weiß man fast nichts darüber, was jahrzehntelang in den konfessionellen Heimen geschehen ist. Man wollte es wohl nicht wissen. Beschwerden wurden meist abgeblockt.

Kein Orden, der Kinderheime unterhielt, hat je eine kritische Untersuchung der dort praktizierten Erziehung veröffentlicht. Die Jubiläumsbroschüren der konfessionellen Heime zum 75- oder 100-jährigen Bestehen überspringen in der Regel diese Zeit. Dabei exekutierten viele Heimleiter und Erzieher nach 1945 zunächst wenig verändert und unreflektiert eine um die Jahrhundertwende ausgeklügelte und vom NS-Regime fortentwickelte Straf- und Besserungspädagogik. Mehr als zwei Jahrzehnte lang interessierte kaum jemanden, was hinter den dicken Mauern geschah."
Die von Wensierski dokumentierten Fälle zeigen eine Praxis letztlich strafrechtsrelevanter Repression: ständiges Prügeln, wochenlanges Wegsperren in bisweilen fensterlosen "Besinnungsräumen" mit Pritschen ohne Matratzen, Unterbinden des Kontakts zur Außenwelt. Die dokumentierten Anlässe von Heimeinweisungen im Deutschland der Wiederaufbaujahre erscheinen heute nichtig: "Arbeitsbummelei", Elvis Presley laut im Radio hören, tanzen gehen und über Nacht wegbleiben. In der jungen Bundesrepublik regierte von 1949 bis 1967 die CDU.

Über Heimeinweisungen entschieden Einzelrichter
Sie entschieden über in der Regel zwei- bis vierjährige Wegsperrungen 14- bis 21-Jähriger zumeist nach der Aktenlage der Jugendämter, ohne die Betroffenen gesehen zu haben. Die Feinde der Jugendfürsorge hießen "Sexualität" und "Verwahrlosung". Sehr oft wurden Kinder von AlleinerzieherInnen eingewiesen, wobei in den kirchlichen Heimen eine uneheliche Geburt als besonderer Makel galt.

»Wir waren jugendliche Zwangsarbeiter«
Konfessionelle Erziehungsheime haben Tradition darin, Sexualität, "Verwahrlosung" und den "Makel" unehelicher Geburt mit Arbeit zu bekämpfen. In ganz Deutschland wurden Heimkinder als billige Arbeitskräfte ausgebeutet. Zehnstundentage und 48-Stundenwochen scheinen in den Erziehungsheimen der beiden großen christlichen Kirchen nicht selten gewesen zu sein. Die Kinder und Jugendlichen arbeiteten in der Regel unentlohnt oder gegen ein minimales Taschengeld; sie waren jedenfalls in der Regel nicht sozialversichert. Eine Spätfolge bei mehrjährigem Heimaufenthalt: mehrjährige Lücken im Versicherungsverlauf.

Die Diakonie Freistatt bei Diepholz etwa war von Beginn an als reiner Wirtschaftsbetrieb mit billigen (männlichen) Arbeitskräften konzipiert; die 14- bis 21-Jährigen arbeiteten in Schlossereien, Schmieden, und winters wie sommers im Moor, um Torf zu stechen und zu pressen (Bild).

Mädchen und junge Frauen wurden typischerweise zum Waschen, Nähen und Bügeln eingesetzt (Bild ganz oben). Wensierski:
"Aufstehen mussten die Jugendlichen morgens um sechs. Strammstehen zum Morgengebet. Dann waschen, ein hastiges Frühstück, Einteilung zur Arbeit. Mittags gab es nach fünf Stunden die erste Pause. Am Nachmittag noch eine kurze Kaffeepause, es gab »Muckefuck«. Bis zu zehn Stunden schuftete die damals 15-Jährige unbezahlt im immer gleichen Takt. Am Samstag mussten sie und die anderen bis mittags arbeiten. Selbst sonntags wurden noch »in der Freizeit« Taschentücher zum Verkauf in der Nähstube umhäkelt.

Bei der Arbeit herrschte Sprechverbot, nur Marienlieder waren erlaubt. »Mein Platz war an der großen Heißmangel. Das stundenlange Stehen in großer Hitze – selbst im Sommer ohne zusätzliche Getränke –, das ständige Falten riesiger Bettwäsche ließ sämtliche Glieder schmerzen. Die Kolonne trottete abends schweigend durch die Gänge zurück wie geprügelte Hunde.« [...] Die hauseigene Großwäscherei war für die Vincentinerinnen offenbar ein lukratives Geschäft. Die Arbeit bringe, so schrieb 1962 der Dortmunder Kirchliche Anzeiger ganz offen, »um die Steuerzahler etwas zu beruhigen«, einen »nicht unerheblichen Teil« der Kosten ein. Hotels, Firmen, Krankenhäuser und viele Privathaushalte zahlten gut – und fragten nicht, wer da fürs Reinwaschen missbraucht wurde. »Die Kunden bekamen uns nie zu sehen, es gab extra einen Abholraum, zu dem war uns der Zutritt streng verboten«, erzählt Gisela. Lohn gab es so wenig wie Taschengeld – mithin auch keinen Rentenanspruch für die Heimjahre. »Wir waren jugendliche Zwangsarbeiter«, sagen ehemalige Heimkinder heute verbittert."

Beginnende Problemeinsicht der christlichen Kirchen?
Wie DER SPIEGEL in einer aktuellen Notiz im Deutschland-Panorama berichtet, sind nunmehr sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche durch den hessischen Landeswohlfahrtsverband "unter Erklärungsdruck" gekommen.

Der Landeswohlfahrtsverband Hessen entschuldigte sich bei ehemaligen Heimkindern. Der einstimmige Beschluss der Verbandsversammlung vom 5. April 2006 im Wortlaut:

"Der Landeswohlfahrtsverband Hessen erkennt an, dass bis in die 70er Jahre auch in seinen Kinder- und Jugendheimen eine Erziehungspraxis stattgefunden hat, die aber aus heutiger Sicht erschütternd ist. Der LWV bedauert, dass vornehmlich in den 50er und 60er Jahren Kinder und Jugendliche in seinen Heimen alltäglicher physischer und psychischer Gewalt ausgesetzt waren.

Der Landeswohlfahrtsverband spricht sein tiefstes Bedauern über die damaligen Verhältnisse in seinen Heimen aus und entschuldigt sich bei den ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohnern die körperliche und psychische Demütigungen und Verletzungen erlitten haben.

Der Landeswohlfahrtsverband Hessen wird sich weiterhin offensiv mit diesem Kapitel seiner Vergangenheit auseinandersetzen und sich den Fragen und Unterstützungsersuchen ehemaliger Bewohnerinnen und Bewohner stellen sowie die in seinen Möglichkeiten liegende Unterstützung leisten."

Von: Landeswohlfahrtsverband Hessen - Ehemalige Heimkinder

Wie DER SPIEGEL berichtet, sind in Hessen die Einrichtung einer Forschungs- und Beratungsstelle für ehemalige Heimkinder sowie eines Museums zur Geschichte der Heimerziehung geplant; der Bundestag plant mit Unterstützung seines stellvertretenden Vorsitzenden Wolfgang Thierse (SPD) und der Abgeordneten Marlene Rupprecht (SPD) eine Anhörung Betroffener. Nun beginnen die Kirchen zu sprechen: "Wenn dieses Unrecht nicht beim Namen genannt wird, dann wird die Würde der betroffenen Menschen heute genauso verletzt wie damals", so der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Bischof Wolfgang Huber. Er hat das Diakonische Werk aufgefordert, die Archive zu öffnen und die Aufarbeitung voranzutreiben.

Auch der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Karl Lehmann, befürwortet die "Aufarbeitung der Geschehnisse" und distanziert sich von "falsch verstandener Pädagogik", will die Heime jedoch nicht unter einem Generalverdacht wissen. ("Späte Reue". In: DER SPIEGEL 16/2006 vom 15.4.2006, S. 22).

Henriette Mayr

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Kommentar - Martin Mitchell - 04.06.2006:


Martin Mitchell, ehemaliges Heimkind westdeutscher Fürsorgehöllen der 1960er Jahre, schrieb dazu (und seine eigene Leidensgeschichte ist jetzt auch online):

Damalig in Westdeutschland begangenes UNRECHT aufarbeiten und die Opfer entschädigen !!!


[ Damalig in Westdeutschland (sowohl wie auch in Österreich und der Schweiz!) begangenes UNRECHT aufarbeiten und die Opfer entschädigen !!! ]


Ein sehr wichtiger und umfangreicher Artikel verfasst (am 12.04.2006) von Herrn Michael-Peter Schiltsky (in seiner Kapazität als Vereinsberater, im schon am 14. Oktober 2004 in Deutschland gegründeten "Verein ehemaliger Heimkinder e. V.") zum Thema "Kindheit und Jugend ohne Menschenrechte - Gedanken zu einem unrühmlichen Kapitel deutscher Nachkriegs-Geschichte", der als ein Artikel von sehr hoher gesellschaftlicher Bedeutung angesehen werden muss, ist, momentan, einzig und allein, hier auffindbar. Hoch zu empfehlen !


Weiteres zum Thema auch:


Martin Mitchell | 04.06.06 07:43

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