Die Wormser Prozesse begannen 1994 als größter Missbrauchsfall der Republik und endeten als Justizirrtum. Die angeklagten Eltern wurden freigesprochen. Einige ihrer Kinder blieben trotzdem im Heim. Dessen Leiter wird nun angeklagt - er war damals Hauptbelastungszeuge
Als Sarah vier Jahre alt war, verlor sie ihre Familie. Es war der 13. Dezember 1993, ein kalter Montag, an dem Sarahs Eltern zu öffentlich beschuldigten Kinderschändern wurden und ins Gefängnis kamen.
Ihnen wurde vorgeworfen, sie hätten gemeinsam mit anderen Erwachsenen Sarah* und ihre beiden Brüder sexuell missbraucht. Sarah kam - zusammen mit fünf anderen angeblich missbrauchten Kindern - in die Obhut von Stefan S. und lebte fortan in seinem Kinderheim Spatzennest im pfälzischen Ramsen. Sarahs Eltern Beate* und Hans Müller* blieben zweieinhalb Jahre in Haft und wurden mit 23 weiteren Erwachsenen in Worms vor Gericht gestellt. Damals hieß es, sie hätten sich an insgesamt 16 Kindern sexuell vergangen und die Taten gefilmt. Die Wormser Missbrauchsprozesse Mitte der 90er-Jahre schrieben Justizgeschichte.
Stefan S., Leiter des Spatzennests, war einer der Hauptbelastungszeugen, hatte er doch in seinem Heim die ihm anvertrauten Kinder befragt und ihre Aussagen protokolliert. Er behauptete, von dem massenhaften Missbrauch überzeugt zu sein. Doch die Anschuldigungen ließen sich nicht erhärten, alle Angeklagten der Wormser Prozesse wurden freigesprochen. Einer der Richter entschuldigte sich bei ihnen sogar im Namen der Justiz. Die Indizien hatten sich als haltlos erwiesen. Offenbar war schlampig ermittelt worden. Den Massenmissbrauch habe es nie gegeben, sagte damals der Vorsitzende Richter Hans E. Lorenz. Aus dem größten Missbrauchsprozess in der Geschichte der Bundesrepublik war ein einzigartiger Justizskandal geworden.
Nach und nach kehrten die Kinder, die während der Prozesse in Heimen untergebracht waren, zu ihren Eltern zurück. Nur nicht die sechs, die 1993 ins Spatzennest zu Stefan S. gekommen waren. Auch Sarah nicht. So entschied es das Wormser Jugendamt. Die Tochter wolle nicht mehr zu ihren Eltern zurück, hieß es. Etliche Briefe der Mutter an Sarah blieben unbeantwortet. Mehrere Anträge auf Rückführung der Tochter wies der Vormundschaftsrichter zurück.
Sarah hat ihre Eltern und ihre Brüder seit jenem kalten Montag im Dezember 1993 nicht wieder gesehen. Sie sei von Stefan S. massiv beeinflusst worden, glaubt die Mutter: "Das war Gehirnwäsche." Stefan S. wurde für Sarah im Laufe der Jahre zur Vaterfigur. Vermutlich glaubt Sarah bis heute, von ihren Eltern sexuell missbraucht worden zu sein. Ihre Mutter kann diese Vorstellung kaum ertragen.
Vor vier Wochen nun erfuhr sie, dass Stefan S. in Untersuchungshaft sitzt - wegen sexuellen Missbrauchs. Seitdem lässt der Gedanke ihr keine Ruhe mehr: ausgerechnet Stefan S., der Mann, der sie und ihren Mann damals vor Gericht schwer belastete und dem das Jugendamt vertrauensvoll sechs angeblich missbrauchte Kinder zusprach. "Mein Verstand macht da nicht mit", sagt die 48-Jährige.
Die Staatsanwaltschaft Kaiserslautern hat am Mittwoch Anklage gegen Stefan S., 40, erhoben. Er soll acht Mädchen im Alter von sechs bis zwölf Jahren während einer von ihm geleiteten Ferienfreizeit in Österreich eingeseift, gewaschen und eingecremt haben, auch im Genitalbereich, und das gegen deren Willen. Dazu soll er bei je zwei Mädchen gegen ihren Willen rektale Fiebermessungen und Darmeinläufe vorgenommen haben. Der Leiter der Herberge in Österreich, in der die Ferienfreizeit stattfand, hatte mit einer Anzeige die Ermittlungen ins Rollen gebracht. Die Staatsanwaltschaft stuft die Vorgänge als "sexuell motiviert" ein. Stefan S. hat alles zugegeben, weist jedoch sexuelle Motive von sich.
Vorwürfe gegen Stefan S. und die Methoden im Spatzennest gibt es seit Jahren. Schon 2003 hatte eine Mutter Strafanzeige gegen Stefan S. erstattet, weil sie gesehen hatte, dass sich Kinder im Spatzennest gegenseitig massierten. Damals hatte die Staatsanwaltschaft die Handlungen als "taktlos" bewertet und das Verfahren eingestellt.
In der Öffentlichkeit wächst nun die Kritik am Jugendamt, das die Aufsicht über das Spatzennest innehatte, und am zuständigen Sozialdezernenten von Worms, Georg Büttler (SPD). Der wehrt sich: "Keiner der Gutachter, die mit dem Fall Spatzennest im Laufe der Jahre befasst waren, hat jemals nur den Hauch einer Andeutung gemacht, es könnte in dieser Richtung einen Verdacht geben." In dieser Richtung - damit meint Büttler den angeblichen sexuellen Missbrauch, aber nicht die offenbare Manipulation der Kinder.
In einem Gutachten für das Amtsgericht Worms zweifelte der Psychologie-Professor Uwe Jopt von der Universität Bielefeld schon vor sechs Jahren an den Erziehungsmethoden von Stefan S.: "Im Grunde verhalten sich alle Kinder nicht wie missbrauchte, sondern wie Kinder, denen eine neurotische, irrationale Angst gegenüber ihren Eltern vermittelt wurde. Die Eltern sind in ihren Augen zu Monstern geworden, denen zu begegnen mit größter Gefahr verbunden ist." Jopt bekräftigt heute seine Vorwürfe: "Stefan S. ist ein ideologisch verbrämter Fanatiker. Aber das Jugendamt hat sich stets vor ihn gestellt. Das ist in meinen Augen menschenverachtender Zynismus vonseiten des Jugendamts."
Sarahs Mutter Beate Müller hatte Stefan S. schon damals im Gerichtssaal misstraut, und nicht nur, weil sie ihre Tochter an ihn verloren hatte. Es war nur ein Gefühl, doch jetzt sieht sie es bestätigt: "Ich gehe davon aus, dass er auch meine Tochter missbraucht hat."
Dabei muss für Stefan S. heute das Gleiche wie für Beate Müller damals gelten: Er ist ein Verdächtiger und hat ein Recht auf die Unschuldsvermutung. Doch 1993, als Beate Müller in der gleichen Situation war wie S. heute, hatte die Öffentlichkeit ihr Urteil schon sehr früh gefällt. Erdrückend schienen die angeblichen Beweise gegen die Beschuldigten. Die Staatsanwaltschaft Mainz war sich sicher, einem der größten und widerlichsten Fälle von Kindesmissbrauch auf die Spur gekommen zu sein. Hans Seeliger, damals Chef der Staatsanwaltschaft, sagte: "Der Fall sprengt die Grenzen des Vorstellbaren."
Beate Müller selbst löste 1991 die Tragödie mit aus. Sie hatte bei ihrer Nichte, der damals dreieinhalb Jahre alten Lisa*, immer wieder blaue Flecken und Beulen am Körper gesehen und sie in die Praxis zweier Kinderärzte gebracht. Die Mediziner sahen darin eindeutige Hinweise auf eine körperliche Misshandlung. Sie behaupteten zudem, es gebe den dringenden Verdacht auf wiederholten sexuellen Missbrauch, denn sie hatten Verletzungen im Anal- und Genitalbereich der Kinder festgestellt. Daraufhin zeigte Lisas Vater, Beate Müllers Bruder, Lisas Mutter an, von der er inzwischen geschieden war.
Der Staatsanwaltschaft reichten die Hinweise nicht für eine Anklage. Sie stellte das Verfahren ein. Das Jugendamt beauftragte aber den Kinderschutzverein Wildwasser, Lisa und ihre drei Geschwister regelmäßig zu betreuen und deren Kontakt zu Eltern und Großeltern zu regeln. Es war Lisas kleine Schwester Anna*, die dann - angeleitet von einer Wildwasser-Mitarbeiterin - beim Spiel mit speziell für Missbrauchsopfer gefertigten Puppen sexuelle Handlungen andeutete und dazu Namen von Familienmitgliedern nannte. Die Mitarbeiterin befragte weitere Kinder der Familie, deutete auch deren Aussagen in Richtung Missbrauch und informierte das Jugendamt.
So geriet eine ganze Familie in den Verdacht des Massenmissbrauchs - insgesamt 24 Mütter, Väter, Stiefväter, Onkel, Tanten und Großeltern. Sie hätten angeblich 16 Kinder zwischen sechs Monaten und neun Jahren über Jahre hinweg vergewaltigt und gequält. Damit nicht genug: Eines der Kinder erzählte von Filmaufnahmen. Der Verdacht war geweckt, ein Pornoring sei am Werk gewesen. Andere Aussagen wurden so gedeutet, dass die Taten in einer Gaststätte stattgefunden hätten. So geriet auch deren Wirt in den Kreis der Verdächtigen und später Angeklagten.
Lisa war das erste Kind, das dann auf behördliches Geheiß von ihrer Familie getrennt und ins Spatzennest zu Stefan S. gesteckt wurde. Ihre Geschwister folgten. Im Heim protokollierte auch dessen Leiter Stefan S., was die Kinder beim Spielen sagten und zeigten. Vor Gericht trat er den Angeklagten feindselig gegenüber. "Er erschien damals als Zeuge hoch emotionalisiert, als leidenschaftlicher Gegner sexuellen Missbrauchs. Das Auftreten war ungewöhnlich. Er schien von der Aufgabe des Kinderschützers besessen zu sein", erinnert sich Hans E. Lorenz, der Richter des zweiten und dritten Prozesses.
Heute werden die Wormser Prozesse an den Universitäten in Jura- und Psychologie-Vorlesungen immer dann herangezogen, wenn es darum geht zu zeigen, wie Ärzte, Psychologen und Juristen bei dem heiklen Thema Kindesmissbrauch folgenschwere Fehler begehen können. Worms ist ein Lehrstück geworden, bei dem es im Wesentlichen nur um eine Frage geht: Wie erkennt man den sexuellen Missbrauch von Kindern?
Die Fehler von damals sind bekannt. Die Atteste der Kinderärzte waren eine entscheidende Grundlage für die Anklage. Aus heutiger Sicht sind sie wertlos. Richter Lorenz sagt: "Sexueller Missbrauch kann in der Regel ärztlich weder belegt noch widerlegt werden. Darin sind sich international tätige Gerichtsmediziner einig." Tatsächlich hatte ein medizinischer Zweitgutachter damals festgestellt, dass die Genital- und Analverletzungen der Kinder auch andere Ursachen gehabt haben könnten.
Als zweite Stütze dienten die Aussagen der Kinder. Doch wie waren sie entstanden? Richter Lorenz: "Da hat beispielsweise ein Kind auf ein und dieselbe Frage sechsmal mit Nein geantwortet, um dann beim siebten Mal Ja zu sagen. Diese Aussageentwicklung spricht eindeutig gegen stattgefundenen sexuellen Missbrauch." Viele Fragen seien mit derart vielen Vorgaben und Details gestellt worden, "dass dadurch die spärlichen Antworten der Kinder nicht Grundlage einer Verurteilung sein konnten", sagt Lorenz. Der im zweiten und dritten Wormser Prozess eingesetzte psychologische Zweitgutachter, Professor Max Steller von der Charité Berlin, ist überzeugt: "Das Verfahren hätte nie eröffnet werden dürfen. Aber es war damals Zeitgeist, überall sexuellen Missbrauch finden zu wollen." Den Ermittlern wurde später vorgeworfen, sich zu einseitig auf die Protokolle von Stefan S. und der Wildwasser-Mitarbeiterin verlassen zu haben.
Die drei Wormser Verfahren kosteten den Steuerzahler sechs Millionen Mark. Beate Müller bekam rund 17 000 Mark als Haftentschädigung zugesprochen. Es war kein Trost. Ihre beiden Söhne bekam sie am 1. Juli 1997 zurück. Die Jungen waren nie im Spatzennest, sondern in einem anderen Heim. Von dort hatten sie Briefe an das Jugendamt geschrieben mit der Bitte, endlich zu den Eltern zurückzudürfen. Sie leben heute bei ihrer Mutter. Zu ihrem Vater, inzwischen geschieden von Beate Müller, haben sie regelmäßigen Kontakt.
Wo Sarah heute ist, weiß ihre Mutter nicht. Beate Müller hat erfahren, dass ihre inzwischen volljährige Tochter als Betreuerin bei jener Ferienfreizeit in Österreich dabei war, die nun Stefan S. zum Verhängnis wurde. Jetzt hofft sie, Sarah endlich wiederzusehen: "Wenn meine Tochter im Prozess gegen Stefan S. als Zeugin geladen wird, sitze ich ganz vorne im Gerichtssaal."
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