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Deutsches Sorgerechtsdrama erzürnt US-Christen
Von Jochen Leffers und Britta Mersch
In Erlangen wollten Eltern ihre Tochter zu Hause unterrichten - da entzog das Schulamt ihnen das Sorgerecht und wies das Mädchen in die Psychiatrie ein. Jetzt empört der Fall US-Christen: Sie beten für Melissa B., ziehen Nazi-Vergleiche und wollen sogar deutsche Produkte boykottieren.
Erlangen - In den USA sind bibeltreue Christen eine Macht. Beim Zank um Kreationismus versus Evolutionstheorie, das Schulgebet, den Moralkodex an staatlichen Schulen oder die Inhalte von Schulbüchern - stets versuchen sie ihre frommen Ideen mit beträchtlichem finanziellen und juristischen Aufwand durchzudrücken.
Inzwischen sind die Fundi-Christen auch international gut vernetzt. So gibt es in Deutschland eine Reihe stark religiös geprägter Organisationen wie das Heimschulwerk "Philadelphia-Schule", das "Netzwerk Homeschooling" oder den Rechtshilfeverein "Schulunterricht zu Hause". Sie orientieren sich am US-Modell des "Homeschooling" und unterstützen Eltern, die ihre Kinder auch in Deutschland zu Hause unterrichten wollen.
Das Schulamt pochte auf Erfüllung der Schulpflicht
Über ihre internationalen Kanäle erfuhren christliche US-Aktivisten von einem Fall aus Erlangen und befinden sich seitdem in heller Aufregung. Es geht um Melissa, das älteste von sechs Kindern der Familie B.: Bis zum Sommer 2005 besuchte sie die 7. Klasse eines Erlanger Gymnasiums, schaffte die Versetzung nicht und hätte die Klasse wiederholen müssen. Dagegen protestierten die Eltern. In der Klasse sei es zu laut gewesen, durch viele Stundenausfälle habe es an der Förderung gefehlt, heißt es in der Darstellung des Falles auf der Webseite des "Netzwerks Bildungsfreiheit".
Also nahmen die Eltern Melissa von der Schule und unterrichteten sie fortan zu Hause selbst, während die Geschwister weiter zur Schule gingen. Das Schulamt pochte aber auf die Erfüllung der Schulpflicht, meldete Melissa ab und teilte sie einer Hauptschule zu.
Was dann geschah, macht den Fall verzwickt und aus Sicht amerikanischer Christen empörend: Melissa wurde weiter zu Hause unterrichtet, das Jugendamt schaltete sich ein. Laut "Netzwerk Bildungsfreiheit" veranlasste ein Familiengericht im letzten August eine Anhörung der Eltern und des Mädchens, zu der nur der Vater erschien. Nach Auffassung des Jugendamtes waren die Eltern "nicht bereit, an der erforderlichen Aufklärung mitzuwirken". Die weiteren Entscheidungen traf das Familiengericht: Es entzog den Eltern weitgehend das Sorgerecht, gab ein psychiatrisches Gutachten in Auftrag - und sorgte für Melissas Einweisung in die Kinder- und Jugendpsychiatrie des Klinikums Nürnberg.
"Mit Heimunterricht hat das nichts zu tun"
Durch einen weiteren Gerichtsbeschluss sieht das Jugendamt "die Sorge um das Wohl des Mädchens bestätigt". Die Gründe für die Einweisung nennt das psychiatrische Gutachten, das das "Netzwerk Bildungsfreiheit" im Internet veröffentlichte: Der Gutachter diagnostizierte bei Melissa B. eine "emotionale Störung", verbunden mit einer "massiven Schulphobie und einer starken Selbstwertproblematik", bezeichnete die Erziehungsbedingungen als "abnorm" und empfahl eine "basale Neuorientierung in einer heilpädagogischen Einrichtung/Wohngruppe". Die Schülerin sei in "intensive Förder- und Rehabilitationsmaßnahmen" zu integrieren, damit sie den Schulabschluss nachholen könne. Ihre Eltern seien nicht in der Lage, die "Gefährdung der Tochter richtig einzuschätzen".
Sorgerechtsentzug und Zwangseinweisung in die Psychiatrie sind krasse Schritte - für das Jugendamt aber ein übliches und völlig rechtskonformes Vorgehen bei Gefährdung des Kindeswohls. Nur darum gehe es. Zu keiner Zeit habe sich das Stadtjugendamt mit der Erfüllung der Schulpflicht beschäftigt, zumal die 15-Jährige inzwischen nicht mehr schulpflichtig sei. "Mit Heimunterricht hat der Fall nichts zu tun", sagt Edeltraut Höllerer vom Jugendamt Erlangen SPIEGEL ONLINE. Aus juristischen Gründen könne sie auf den Fall nicht näher eingehen.
Die Befürworter des Heimunterrichts indes sprechen von "Verschleppung" und deuten den Fall als Generalangriff. "Das ist der schlimmste Fall, den die Heimschul-Bewegung in Deutschland je erlebt hat", sagt Jörg Grosselümern. Der Computerfachmann, aktiv in der "Initiative deutscher Hausschulfamilien" und im "Netzwerk Bildungsfreiheit", bezeichnet Melissa als "Geisel" und spricht von einer "Entführung" durch die Behörden.
Die US-Fundis beten für Melissa
Doch der Fall schlägt auch international Wellen, und in den USA sind christliche Eiferer in ihrer Wortwahl gar nicht zimperlich. In zahlreichen christlichen und konservativen US-Medien wird über Melissa diskutiert, einige Kommentatoren vergleichen die deutschen Behörden mit Nazis. In der "Washington Times" schrieb Michael Smith, Präsident einer Heimunterrichts-Initiative, einen Aufruf mit der Überschrift: "Der Kampf gegen die faschistische Konformität".
Die Aktivisten versuchen sogar, politischen Druck auf die deutsche Regierung auszuüben; im Internet kursieren Aufrufe, allerlei Politiker von Bundespräsident Horst Köhler bis Kanzlerin Angela Merkel mit Protesten einzudecken. Joel Thornton, Präsident einer Vereinigung für Menschenrechte: "Wir wollen ein Treffen mit dem amerikanischen Botschafter in Berlin organisieren." Für Melissa und ihre Familie will er ein internationales Gebet ins Leben rufen. Eine Website ruft sogar zum Boykott deutscher Produkte auf.
In den USA gilt "Homeschooling" als klassisches Elternrecht. Die Zahl der Kinder, die Mathe bei Mutti lernen, liegt zwischen einer und zwei Millionen. Nicht immer sind die Gründe dafür rein religiös: Eltern kritisieren oft auch die sturen Lehrpläne und die hohen Kosten für Privatschulen.
Deutschland hat eine völlig andere Tradition: Die allgemeine Schulpflicht - in Preußen schon vor fast 300 Jahren eingeführt - gilt für alle Kinder ab dem sechsten Lebensjahr und hat sich historisch mehr als Schul-Recht entwickelt. Unzufriedene Eltern können allenfalls eine Privatschule gründen und müssen strenge Auflagen des Staates hinnehmen. Wer seine Kinder einfach zu Hause unterrichtet, macht sich strafbar.
Verzweifelte Eltern gegen die Behörden
Die Zahl der Schulboykotteure wird bundesweit auf 300 bis 500 geschätzt. Die meisten sind religiös motiviert und nehmen zum Beispiel Anstoß am Sexualkunde- und Biologie-Unterricht staatlicher Schulen. In den vergangenen Jahren gab es immer wieder Rechtskonflikte, zum Beispiel um die Glaubensgemeinschaft der "Zwölf Stämme" in Bayern oder um sieben Baptistenfamilien in Paderborn. Eine fromme Hamburger Familie flüchtete im August per Wohnmobil aus Deutschland - vermutlich nach Österreich, wo es keine Schulpflicht gibt.
Im Fall eines bibeltreuen Christenpaares in Hessen urteilte im vergangenen Juni das Bundesverfassungsgericht, dass die Religionsfreiheit Eltern nicht das Recht gibt, ihre Kinder von der Schule fernzuhalten. Fast immer betonen die deutschen Gerichte, dass Kinder und Jugendliche auch das Recht haben, andere Meinungen als die ihrer Eltern kennenzulernen. Statt in einer heilen Parallelwelt aufwachsen, sollen sie als eigenverantwortliche Persönlichkeiten ihren eigenen Platz in der Gesellschaft finden - das ist die durchgehende Linie der Richter in den vielen bisherigen Verfahren.
In Erlangen geht es nur am Rande um die Schulpflicht. Die Eltern sind religiös, aber keine generellen Schulboykotteure. Sie sehen sich als hilflose Opfer in einem Verzweiflungskampf gegen den übermächtigen Staat. Das Jugendamt dagegen sieht sich in der Pflicht, ein Kind vor Fehlentscheidungen der Eltern zu bewahren. Der Fall Melissa B. ist tragisch - aber als Munition für die nimmermüde Lobbyarbeit der Heimschul-Anhänger taugt er kaum.
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